Kulturhistorische Wurzeln des christlichen Hungertuches

Ein kurzer kunsthistorischer Überblick von Veronika Moos-Brochhagen

Während der vorösterlichen Fastenzeit wurde (etwa seit dem 11. Jahrhundert) mittels grosser Tücher der Altarraum verhangen, oft kombiniert mit der Verhüllung der Kreuze, Heiligenfiguren und -bilder.
Die ältesten Tücher waren weiße, einfarbige Tücher.
Meist waren sie aus gebleichtem oder ungebleichtem Leinen, wie es schon seit dem 9. Jahrhundert für die Altarbekleidung vorgeschrieben war.
Jedoch gibt es auch Ausnahmen in Seide, Wolle oder Leder.
Zu Beginn der Tradition waren sie meist aus einfachem weissem Tuch ohne Verzierung, vereinzelt trifft man auch auf violette und schwarze Tücher.
Hungertuch Erkrath - Work in ProgressAufgehangen wurde das Fastenvelum oder Fastentuch meist nach der Komplet des ersten Fastensonntages, andere schon am Aschermittwoch im Chorbogen der Pfarrkirchen vor dem Hauptaltar. An diesem Tag begann auch das Fasten (Hungern) der Gläubigen.
Abgenommen wurde es am Karmittwoch, später auch am Karfreitag. Wenn bei der Complet das Wort aus der Passion erklang: „et velum templi scissum est medium“ („und der Vorhang des Tempels riss mitten durch“), wurde das Hungertuch herabgelassen
Die Verwendung der Hungertücher war auf die vierzig Tage zeitlich beschränkt, den Rest des Jahres wurden sie verschlossen gehalten.

Die Tücher waren aufgrund ihrer Funktion recht gross, das Zittauer Fastentuch (15. Jhd.) hat die Masse 6.80 x 8,20 m)

Die Hungertücher sind letzlich auf die Bußdisziplin zurückzuführen.
Das seelisches Fasten diente als Ergänzung zum körperlichen Fasten. Für die Altarverhüllung und auch für die Verhüllung der Kreuze während der Passionszeit werden immer wieder drei Gründe aufgeführt:
1. Die Unwürdigkeit der Gläubigen während der Zeit der Buße das Heiligtum des Altares zu schauen.
2. Der Hinweis, dass die Gottheit Christi sich während des Leidens verhüllte.
3. Der Vergleich mit dem velum templi des alten Testamentes, wonach der kostbare Vorhang im Tempel zu Jerusalem beim Opfertode Christi zerriss.

Seit dem frühen 12. Jhd. entwickelte sich neben der Verhüllungsfunktion der Hungertücher eine zweite Funktion.
Je nach Region verschiedentlich begann man die Tücher künstlerisch zu gestaltet. Zunächst nur mit einfacher Ornamentstickerei geschmückt, kennt man ab dem 12. Jahrhundert reich bemalte und bestickte Werke.
Die Hungertücher dienten nun neben der Verhüllung auch der Vermittlung und bildnerischen Darstellung der Heilsgeschichte und entwickelten sich zu Bildbibeln.
Mit Änderung der theologischen Auffassungen, ändert sich der Gebrauch der Tücher. Ein allgemein sich durchsetzender „Sichtbarkeitskult“, das „Sehenwollen“ des Mysteriums, lockert sich die alten Vorschriften über die Bußordnung in der Fastenzeit. Die Fastentücher behielt man zwar bei, aber im Laufe des Mittelalters werden diese Tücher immer kleiner.
Sie wurden nun hoch im Chorbogen der Kirche aufgehangen, so dass der Blick zum Hochaltar für die Gläubigen frei blieb.
Ihre Hochblüte erlebten die Hungertücher im 14./15. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und England.
Mit der Reformation verliert das Hungertuch an Bedeutung. „Die fasten, palmtag und marterwochen lassen wir bleiben... nicht doch also, das man das Hungertuch, palmen ließen, bilde bedecken und was des Gaukelswerk ist, halten (sollen)“(M. Luther). Mit Beginn der Neuzeit verflüchtigte sich dieser Brauch weiterhin zunehmend und hielt sich nur noch in Westfalen und im Münster zu Freiburg. Es sind heute nur wenige Hungertücher erhalten.

Refrath, im Herbst 2004

© V. Moos, 2005-09

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